Der Fensterkopf

Jeden Morgen, wenn ich zur Schule ging, sah ich diesen Kopf im Fenster. Es war ein seltsamer Kopf, ein kleiner Kopf, ein Kopf ohne Haare. Ich fühlte mich beobachtet, es war, als liefen mir seine Augen hinterher. Ein trauriger Faden, der ab riss, sobald ich außer Sichtweite war. Wenn ich nachmittags nach Hause kam, war keiner zu sehen.

 

„Wer wohnt in dem Haus auf der Ecke?“, fragte ich Mama.

„Da wohnen die Ersfelder, ein sehr nettes Ehepaar. Warum fragst du?“

„Haben die einen kleinen Jungen?“

„Nein, mein Schatz. Sie wohnen da alleine.“

Verwirrt ging ich in mein Zimmer. Das war so merkwürdig. Wer war der Kopf in dem Fenster?

 

Ein paar Tage später ließ Mama mich allein. „Sei schön artig, Britta, ja? Ich bin in einer Stunde wieder da.“

Ich war mit meinen elf Jahren mittlerweile groß genug, dass Mama mich hin und wieder alleine ließ, mal für eine halbe Stunde, das längste waren bisher drei Stunden gewesen. Da hatte sie einen ganz wichtigen, bestimmt furchtbar langweiligen Termin auf der Arbeit gehabt. Auf jeden Fall hatte sie sehr gequält ausgesehen, als sie gefahren war.

 

Normalerweise blieb ich zu Hause, wenn sie weg war und spielte mit der großen Legokiste im Wohnzimmer. Das mochten Mama und Papa nämlich nicht so gerne, sie sagten immer, ich hätte mein eigenes Zimmer, um die große Kiste auszukippen. Ich passte aber genau auf, dass ich alles weggeräumt hatte, bevor sie wieder kamen. Mama guckte nämlich so böse, wenn sie nicht mit dem einverstanden war, was ich gemacht hatte. Manchmal spielte ich sogar auf meiner Geige, übte die dämlichen Etüden, die Frau Frohsinn mir aufgab. Frau Frohsinn hatte so einen strengen Gesichtsausdruck, wenn ich nicht geübt hatte. Und selbst wenn sie zufrieden mit mir war, sah sie immer noch nicht fröhlich aus.

 

Heute ging ich aus dem Haus. Ich hatte meinen eigenen Schlüssel, von daher war das kein Problem. Ich wollte mir unbedingt das Haus auf der Ecke genauer ansehen. Da stimmte doch etwas nicht. Das Haus selber sah aus wie ein ganz normales, langweiliges Eckhaus. Es war aus rotem Backstein (ob die Steine wohl alle in den Ofen kamen, bevor daraus ein Haus gebaut wurde?) und hatte eine braune Haustür. Nicht einmal lustige Fensterläden

hatte es, so wie das Haus von Frau Frohsinn. Es war wirklich ein ganz gewöhnliches Haus. Ich klingelte und wartete.

 

Vor lauter Warterei hüpfte ich vom rechten aufs linke Bein und wieder zurück, aber es machte keiner auf. Ich sah mich um. Ein blaues Auto fuhr die Straße entlang und bog ab, sonst war keiner zu sehen. Ich öffnete das kleine grüne Gartentor und rannte nach hinten. Der Garten war schön, eine große Wiese zum Spielen und es blühten viele Blumen. Ich mochte Blumen, die waren so schön bunt und rochen gut. Der ganze Garten war umgeben von einer dunkelgrünen Hecke, die fast doppelt so groß war wie ich. Nirgends konnte man durchgucken. Es gab eine kleine Terrasse, auf der ein Holztisch mit vier Stühlen stand. Alles in allem war auch hier nichts Besonderes zu sehen. Doch dann tauchte der Kopf in der Tür auf. Er gehörte zu einem kleinen Jungen, der viel schmaler aussah als ich. Dabei behauptete Oma immer, ich sei viel zu dünn.

Ich ging näher an die Tür ran.

 

„Wer bist du?“, fragte ich durch das Glas.

„Jonas.“ Er war kaum zu hören durch die Tür.

„Ich bin Britta. Magst du nicht aufmachen?“

Er nickte und legte den Hebel um. Ich ging hinein.

 

„Ich hab dich gesehen“, meinte ich, weil ich jetzt, wo ich hier war, nicht richtig wusste, was ich sagen sollte.

„Ich dich auch“, erwiderte er.

„Was machst du hier? Warum bist du immer im Haus?“

„Ich darf nicht nach draußen.“

„Was? Niemals?“

Jonas hatte grüne Augen und sie sahen ganz schön traurig aus. Seine Haut war richtig hell, fast durchsichtig.

„Nein, nie.“

Jetzt klang er auch noch wirklich traurig. Ich kaute auf meiner Unterlippe rum und drehte Zeigefinger und Daumen hin und her, so wie Papa das gerne machte.

„Warum?“

„Mama sagt, ich bin zu schwach.“

„Hm. Was machst du dann den ganzen Tag? Und musst du niemals zur Schule gehen?“

Er verzog das Gesicht. „Frau Becker kommt jeden Tag und unterrichtet mich.“

„Das klingt auch nicht besser als Schule. Da sind dann ja gar keine anderen Kinder.“

„Nein. Ich bin alleine. Ich habe keine Freunde.“

 

Puh. War das schwierig. Jonas tat mir leid. Und ich war so neugierig. Nach einigem Nachdenken streckte ich ihm feierlich die Hand hin. „Jetzt schon“, grinste ich. Völlig erstaunt sah er mich an und ganz zögerlich ergriff er meine Hand. Dann strahlte er übers ganze Gesicht.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Friedrich Specht (Freitag, 06 April 2018 12:29)

    Hallo Frau von Kalm,
    sehr schön geschrieben, es macht neugierig wie es wohl weiter geht. Vielleicht erzählen Sie es mir, wenn ich kommende bei Ihnen im Hause bin.
    Mit freundlichen Grüßen F. Specht