Graue Linien

 

Der Bleistift in ihrer Hand wanderte von selbst über das Blatt. Er hinterließ Spuren, Wege, Kreuzungen, Abgänge. Keiner wusste, was sie bedeuteten, außer ihr selbst. Keiner verstand, von welcher Sehnsucht, welchen Hoffnungen, welchen Geheimnissen sie sprachen.

 

Anyescha hätte sie aufgeschrieben, hätte ihre Träume als Geschichte dem Papier anvertraut, doch konnte sie nicht schreiben. Sie konnte nicht einmal sehen, welche Kreuzungen und Abgänge sie malte, weil sie blind war.

 

„Anyeschka, komm rein!“, bat ihre Mutter. Anyescha wollte nicht hinein gehen. Es war warm und die Sonne schien, ein Vogel zwitscherte in der Nähe und sie hörte den Wind in den Bäumen. Doch ihre Mutter gab nicht auf.

„Anyuschka, komm bitte rein. Das Essen steht auf dem Tisch.“

 

Seufzend legte Anyescha ihren Stift auf das Papier und erhob sich. Sie kannte den Weg nach innen, musste dafür nicht sehen. Es roch nach Pfannkuchen mit Apfelmus. Meist wäre sie dafür gerne aufgestanden, wenn sie nicht so sehr ihren Träumen nachgehangen hätte.

Sie schob sich die schwarzen Strähnen aus dem Gesicht, die der Wind aus dem Pferdeschwanz gelockert hatte und tilgte damit unauffällig auch die Träne, die sich auf ihrer Wange verirrt hatte. Ein letztes Mal, schwor sie sich. Ich gehe ein letztes Mal hinein.

 

„Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken, Anyuschka?“ So viel Sorge, so viel Verzweiflung. Das durfte nicht anhalten, sie wollte ihrer Mutter nicht länger Kummer machen. Anyescha antwortete nicht. Sie sprach selten, nur wenn es nicht anders ging.

 

Der Pfannkuchen war köstlich, doch das Essen zwischen Mutter und Tochter verlief still. Voller Ahnungen ruhte der Blick der Mutter auf Anyescha, das dunkle Gespür, das flüsterte, heute noch würde etwas passieren. Doch kein Fragen, kein Bitten und Flehen brachte ihre Tochter zum Reden. Bis der Vater nach Hause kam, war es noch lang.

 

Anyescha drückte ihre Mutter, bevor sie nach draußen ging, schnupperte Rosenholz und Hibiskusblüte, trank von der Liebe, die sie beide füreinander hatten. Ihre Träume lockten sie, ihre Hoffnungen sangen und tanzten, indes ihre Mutter zurück zu lassen war dennoch schmerzhaft. Es wurde eine lange Umarmung, auch ihre Mutter wollte sie nicht loslassen. „Ich hab dich lieb, hörst du Anyuscha.“ Anyescha nickte, löste sich und ging nach draußen.

 

Der Stift zog seine letzten Runden über das Blatt, erzählte von den Kreuzungen und Wegen, von der anderen Welt, die auf Anyescha wartete. Als sie spürte, dass ihre Mutter nicht hinsah, stand Anyescha auf, ließ die Bleistiftzeichnungen als Erinnerung da und ging in den Wald, der vor ihrem Garten wartete. Der Wind begrüßte sie, goldene und rote Blätter wirbelten schelmisch um sie herum. Je weiter sie ging, desto leichter wurde ihr Herz. Sie begann vor Glück zu singen und ihre Stimme hallte hell und klar durch den Wald. Dort vor ihr war er, der Abgang, den sie beschreiten musste. Sie konnte ihn beinahe sehen, so sehr rief er nach ihr. Sie nahm die Abzweigung und als sie einen Fuß auf den neuen Weg gesetzt hatte, wurde die Welt hell. Sie konnte die Bäume sehen, die Gräser unter ihnen, die Blätter, die unter ihren Füßen raschelten. Es roch nach Wald und Leben. Eine sehr kleine Frau mit genauso schwarzen Haaren wie Anyescha sie hatte, winkte ihr zu. Zusammen mit ihr ging sie weiter in das Land unter dem Hügel.

 

 

Zuhause fand ihre Mutter die Zeichnungen, sah die Kreuzungen und Wege, die Abgänge, die von den Hoffnungen, Sehnsüchten und Geheimnissen ihrer neunjährigen Tochter sprachen. Anyuschka war fort. Eine Träne fiel auf das Papier, verwischte die grauen Striche.  

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Kommentare: 1
  • #1

    Martina (Mittwoch, 11 Oktober 2017 09:16)

    Welcher Sehnsucht folgt Anyescha; wie ergeht es Ihr? Sehr schöne Zeilen , die Durst auf Mehr machen.
    Ich warte und die möglichen Ideen laufen....
    LG Martina