„Willkommen auf der Cassandra! Kommen Sie an Bord!“
Ungläubig starrte ich auf das Drachenschiff, das vor meinen Augen aus der Dunkelheit aufgetaucht war. Der Drachenkopf war in ein oranges Licht getaucht, wie von einer Fackel, nur dass ich die Lichtquelle nicht finden konnte. Grimmig schauten mich die gigantischen Hauer an, ganz und gar nicht einladend. Das Krokodil mit dem schwarzen Zylinder sah dagegen wesentlich freundlicher aus. Zugegebener Maßen konnte ich seine Zähne aber auch gerade nicht sehen. Krokodil war eine unzureichende Beschreibung, denn das Krokodil hatte einen aufrechtstehenden Körper, wie ein Mann, doch Schwanz, Beine, Arme und Kopf waren die eines Krokodils.
„Mein Name ist Zu“, erklärte es mir, als ich mich immer noch keinen Fuß weit bewegt hatte. „Ich bringe Sie nach Adaira, wenn Sie denn möchten.“
„Adaira ist ein Sonnensystem“, erwiderte ich verwirrt. „Wie fahren Sie mit einem Drachenschiff in den Weltraum?“
„Ein bisschen mehr Fantasie, meine Liebe. In Adaira geht nichts ohne.“
Unsicher schaute ich mich um. Ich hatte davon gelesen, von den Legenden aus Adaira. Aber wirklich dorthin reisen, auf meinen eigenen Füßen? Auf einem Drachenschiff?
Die Neugier siegte und ich betrat das Schiff, das sich sofort in Bewegung setzte.
Zu watschelte zum Steuerrad und winkte mir mit seinem grünen Arm, dass ich mitkommen sollte.
„Wir beginnen in ihrer Kindheit“, hub er an.
„In meiner Kindheit“, unterbrach ich ihn.
„Nein, nein! In Evas Kindheit. Sehen Sie her!“
Das Drachenschiff schwenkte zur Seite und ich hielt mich an der Reling fest, um nicht hinunterzufallen. Vor mir sah ich einen Klassenraum, mit vielen kleinen Menschen drin, alle kritzelten fleißig.
„Eine ihrer ersten Geschichten, zumindest von denen, die sie aufgeschrieben hat. Eine Geschichte sollte zu drei Worten erfunden werden, darunter ein Lebkuchenmann. Ach, was dieser für Abenteuer erlebt hat.“
Fasziniert starrte ich auf die Schüler, von denen manche ein gelangweiltes, manche ein angestrengtes Gesicht zeigten. Eine jedoch schrieb und schrieb und schrieb und als ich das so sah, machte ich mir Sorgen, ob überhaupt alle Buchstaben so schnell den Weg auf das Papier finden konnten, wie sie geflogen kamen. Doch in diesem Augenblick fuhr die Cassandra weiter.
„Nach Backbord sollten Sie jetzt ihren Blick hinrichten“, erklang Zus Stimme. Hilflos starrte ich ihn an, bis er freundlich nach links hinüber wies. Ich kam fast zu spät, um das Bücherregal zu sehen, das inmitten der Sterne auftauchte. Die Titel der Bücher waren beleuchtet. „Märchen aus aller Welt“, las ich. „Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten, Die Wälder von Albion.“ Da waren noch so viele mehr, doch sie wurden kleiner und verschwanden. Ich drehte mich nach vorne zum Drachenkopf und erschrak. „Zu! Der Nebel“, brachte ich heiser hervor.
„Ja, da müssen wir hindurch.“
Um mich herum wurde es kalt und feucht, ich wünschte mir eine dicke Decke statt des leichten Jäckchens, das ich trug.
„Da vorne“, erklang Zus Stimme neben mir.
Ich erblickte sie wieder, nun etwas größer als in dem Klassenraum. Ein dünnes Mädchen, das auf einer Couch saß, die Beine unter sich und in der Hand hielt sie ein kleines Buch.
„Der Nibelungenring auf altdeutsch“, erklärte Zu. In dem Augenblick legte das Mädchen das Buch zur Seite und nahm das nächste. Dieses erkannte ich, hatte ich es doch selbst gelesen: der Herr der Ringe.
„Liest sie denn immer nur?“, fragte ich vorsichtig.
„Nein, aber Bücher sind ihre Freunde. Sie sind ungefährlicher als diese Welt. Nein, sie liest nicht nur. Sie spielt Cello und singt und hat eine wundervolle Familie.“
Ich schaute sie an, sah, wie ihr Gesicht mit dem lebte, was sie las. „Und Bücher sind Abenteuer“, deutete ich.
Zu lächelte.
Wir reisten weiter auf der Cassandra, ließen den Nebel hinter uns. Plötzlich steuerte Zu einen Stern an, der immer größer wurde. Es wirkte auf mich wie unsere Welt, auch wenn die Farben etwas anders waren. Langsam bewegten wir uns um den Planeten herum, bis wir auf die Rückseite kamen. Hier war der Planet nicht vollständig, brach einfach ab, als hätte jemand ein Puzzle nicht fertig gemacht.
„Was ist hier passiert?“
„Ihr erstes Buch, doch niemals fertig geschrieben. Es waren drei Teile geplant und sie war in etwa 15 Jahre alt. Es fehlte ihr ein wenig an Durchhaltevermögen. Doch immerhin, sie gab es ihrem Lehrer, der sie ermutigte, weiterzuschreiben.“
Wir schipperten weiter und kamen wieder an einem Klassenzimmer vorbei. Die Schüler dort waren deutlich älter und viele hielten erstaunt und kopfschüttelnd an ihrem Tisch an, auf dem ein dicker Stapel Blätter, von einem blauen Hefter am Rand gehalten, lag.
„Was ist das?“
Zu lächelte. „Sie sollten eine Hausaufgabe machen, ein Sonett schreiben. Das ist ihre Arbeit.“
„Das ist doch nicht nur ein Sonett! Ein Sonett hat nur, wieviele waren es noch, 14 Zeilen?“
„Richtig 14 Zeilen. Und 15 Sonette ergeben einen Sonettenkranz.“
Ungläubig starrte ich auf die Szene.
„Von diesem Tag an fanden sich in vielen Deutschklausuren kreative Arbeitsmöglichkeiten. Sogar in ihrer Abiturklausur. Sie hat sie alle genutzt.“
Schweigend stand ich neben ihm, als wir den nächsten Planeten ansteuerten. Er reichte mir ein Fernrohr. Als ich hindurch schaute, sah ich einen Wald und mitten darin einen kleinen Jungen, nur dass es nicht wirklich ein Junge war, sondern wie ein kleiner Baum, der sich bewegte.
„Ein Waldgeist“, erklärte Zu.
„Tom“, erwiderte ich.
„Da ist er“, bestätigte Zu. „Alles hat damit angefangen, dass sie eine Geschichte für ihre Cousinen zu Weihnachten schreiben wollte. Es sollte was kurzes sein, die Cousinen waren noch sehr klein. Und da kam ihr Tom in den Sinn, zu dem sie bereits ein Gedicht geschrieben hatte.“
Ich bestaunte Tom, der auf seinen Freund Hannes zu lief, bis wir zu weit weg waren, um noch etwas zu sehen.
Zu wies nach vorne, wo sich viele große und kleine Planeten erkennen ließen.
„Dies hier ist Adaira.“
Ich stand da, wortlos und der Wind fegte mir durchs Gesicht.
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